Mordprogramme

„Der Holocaust überschattet die Tötung von als ‘unwert’ kategorisierten Menschen, aber das eine Mordprogramm ist nicht schlimmer als das andere, der zugrunde liegende Rassismus ist derselbe…“

…schreibt mir eine ehemalige Schulkameradin als Reaktion auf meinen Blogeintrag über die Tötungsanstalt Sonnenstein. Ich kann ihr nur zustimmen.

Gestern wurde in den Nachrichten gesagt, unsere Bundeskanzlerin Frau Merkel habe einem israelischen Nachrichtensender gegenüber neue Formen des Antisemitismus in Deutschland beklagt und ihre Bedrückung zum Ausdruck gebracht, dass kein jüdischer Kindergarten, keine Schule und keine Synagoge ohne Polizeischutz sein könnte.

Der sogenannte neue Antisemitismus ist eine Form des Rassismus und damit etwas nur scheinbar Neues, denn der zugrundeliegenden  Mechanismus ist eigentlich immer gleich. Ohne eine tiefsitzende Wut im Einzelnen gibt es für mich keinen Rassismus. Es beginnt immer mit dem persönlichen Leid eines Menschen. Erlittenes Leid, – zu viel Schmerz, zu viel Ohnmacht, zu viel Hilflosigkeit, zu viel Alleingelassenwerden, ohne dass einem die erforderliche Unterstützung zuteil wurde, ist der Nährboden, auf dem Rassismus ensteht, bzw. entstehen kann. Der eine wird depressiv, Manche bringen sich um und Andere reagieren wiederum mit heftiger Wut, ohne sie auf gesunde Weise abreagieren oder sie verarbeiten zu können. Wird sie aufgestaut, „kocht“ sie im jeweiligen Menschen, bis endlich ein Ventil gefunden wird: gegen das Andere, das Fremde, das vielleicht nur Neue und damit Beängstigende! Oder richtet sich gegen die, denen es aus irgendeinem Grunde besser geht, die vielleicht mehr haben! Du nicht, du hast nicht die gleichen Rechte wie ich hier, dich will ich nicht haben in meiner Nähe, meiner Straße, meiner Schule, meiner Stadt, meiner Heimat…Die Begründungen sind manchmal erstaunlich. Und doch. Die Wut trifft auf die Wut in Anderen. Gemeinsam wächst das Kraftpotential dem auserkorenen Feindbild gegenüber, wenn Wut und Wut sich vereinigen und erzeugen damit im schlimmsten Fall einen Flächenbrand. Die Mordprogramme des Holocaust waren letztlich der gewaltige und perfekt organisierte Ausdruck eines derartigen ausgeuferten Flächenbrandes, harmlos formuliert. Und jeder Krieg im Kleinen wie im Großen ist Ausdruck davon.

Aber dass auch wieder bei uns in Deutschland das Entwertende und Ausgrenzende um sich greift, quält mich besonders in diesen Tagen. Gerade hier in Deutschland! Ich fühle mich klein, hilflos und ausgeliefert diesen spürbar größer werdenden Strömungen inzwischen bei uns wieder, aber auch auf der großen Weltbühne und suche händeringend weiter nach Möglichkeiten, diese Entwicklung mit bremsen zu helfen. Sicherlich gemeinsam mit vielen anderen Menschen, bei uns und überall auf der Welt. Die Hoffnung gibt mir Mut, dass die allermeisten Menschen anders denken als derart, wie oben skizziert. Daran will ich einfach glauben!

Ich wünschte mir, dass viel mehr Menschen ihre Wut als Symptom, also als Ausdruck tief sitzenden eigenen Leides begreifen könnten, für das sie Hilfe benötigen. Etwas, das gewürdigt und betrauert werden muss, um es verarbeiten zu können, z.B. in der Psychotherapie. Auch wenn die eins zu eins direkt weitergegebene Wut vielleicht eine vordergründige schnelle Spannungsabfuhr erzeugen kann, löst sie die ursächliche innere Qual im Regelfall nicht auf. Das gelingt nur in einem Trauerprozess.

Ich wünschte mir weiter, dass es mehr Menschen gibt, die  begreifen, dass es Jemandem, der so wütend ist und entwertendes Verhalten zeigt, höchstwahrscheinlich tief innerlich sehr schlecht geht. Verständnis und Hilfsangebote wären sicherlich hilfreicher als schnelle Verurteilung und Gegenaggression. In Schulen wird dies Zusammenhangswissen inzwischen immer mehr beigebracht.

Ich wünschte mir, mehr Menschen könnten den berührenden Prozess in psychotherapeutischen Behandlungen miterleben, wenn endlich Raum ensteht für den eigenen Wert, der durch erlittenes Unrecht und hinter der eigenen Wut nicht mehr zu spüren war. Wut löst sich über diesen Weg auf.