Seid wachsam

Wenn ich nicht gerade vor einer Weile in der Gaskammer in Pirna gestanden hätte (s. Post vom 8. April 2018) und wenn ich nicht gerade das frisch auf deutsch erschienene Buch „Die Tagesordnung“ von Éric Vuillard (Matthes & Seitz, März 2018) gelesen hätte, hätte mich die Dokumentation „Ungleichland – Wie aus Reichtum Macht entsteht“ (in der Mediathek verfügbar bis 7.5.19) die am 7.5.2018 in der ARD ausgestrahlt wurde vielleicht nicht so bewegt. Die Dokumentation zeigt eindringlich auf, dass unsere Demokratie in Gefahr kommen könnte oder vielleicht schon ist. In meinem Kopf fügte sich alles wie Puzzlesteine zusammen und machte die Nacht nach der Dokumentation für mich zu einer schlaflosen. Ich habe wirklich Angst bekommen.

Auf der Buchrückseite ist der Text zu lesen:

„Krupp, Opel, BASF, Siemens, Allianz – kaum ein Name von Rang fehlte am 20. Februar 1933 bei dem von Adolf Hitler einberufenen Geheimtreffen im Reichstagspräsidentenpalais. So beginnt eine Geschichte, in der Éric Vuillard einen bild- und wortgewaltigen Blick in die Hinterzimmer der Macht gewährt, wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird – damals und immer wieder.“ (tatsächliche Recherchen)

„Eine Erzählung, die Bilder und Mythen erschüttert, ein Text gegen die Nachgiebigkeit und Resignation sämtlicher Epochen — ein rasantes Buch, das trotz seiner Kürze eine enorme Reichweite hat.“ Le Monde

Der Inhalt des kleinen Buches beschreibt aus einer für mich völlig neuen Sicht den Beginn des ganzen Wahnsinns unserer entsetzlichen Geschichte, der Nazizeit auf und wie sehr die Finanzwelt mit dafür verantwortlich war, was geschehen ist.

Noch haben wir eine bestehende Demokratie. Sie ist die Grundlage unserer freiheitlichen Grundordnung. Ich bin in ihr aufgewachsen. Sie ist etwas derart Selbstverständliches für mich und sicherlich für Viele. Etwas, von dem ich, 1956 geboren, mir bisher nicht vorstellen konnte, es könnte sie bei uns in Deutschland nicht mehr geben. Das ändert sich gerade für mich. Fast zum Anfassen wird es für mich plötzlich vorstellbar, dass sie in Gefahr ist. Als würde sich Geschichte wiederholen können auf gewisse Weise. Denn die verstehbare Unzufriedenheit bis hin zur Wut einer breiteren Masse in der Gesellschaft ist längst wieder da, wie damals. Ebenso wie die Sehnsucht der Menschen nach einer starken Hand, von der sich die meisten sicherlich die Wiederherstellung von wirklicher Gerechtigkeit und Fürsorge innerhalb der Gesellschaft erhoffen und daneben die reiche Minderheit, die sich darüber eine unterstützende Einflussnahme gegen die Bedrohung ihres Besitzes erhofft. Was kann das auf dem Boden unserer offenbar immer noch nicht wirklich verarbeiteten Vergangenheit wieder heraufbeschwören? Gegen was, wohin oder gegen wen könnten sich diesmal die schon so deutlich zu spürenden problematischen Kräfte in unserer Gesellschaft richten? Wird wieder das gleiche Feindbild erkoren, wie damals? Oder neuer ein Sündenbock gefunden, statt die wirklichen Ursachen anzugehen?

Ich möchte daran glauben, dass wir alle zusammen Lösungen finden können für mehr Gerechtigkeit untereinander. Wo es ohne Frage Unterschiede geben darf, Leistungsträger auch mehr haben können, als Andere. Aber ich wünsche mir eine neue Entschlusskraft in der Politik, dass Einsatz von Menschenkraft in jeder Form von Arbeit wieder angemessen entlohnt wird und nicht die selbständig arbeitenden Computer – Algorhythmen über Knopfdruck den Wohlstand dort vermehren, wo er schon längst in einem fast unanständigen Ausmaß vorhanden ist. Ich gehöre definitiv nicht zu den AfD – Wählern, aber ich kann es trotzdem nachvollziehen warum so viele Menschen sich davon angesprochen fühlen, dabei allerdings die davon ausgehende Gefahr für die Demokratie absolut ausblenden. Der Blick muss zurück in unsere Geschichte gerichtet werden.

An der Judenthematik und aller anderen Verfolgten während der Nazizeit, wie Behinderte, Sinti und Roma, Homoxexuelle, – dem, was schlicht gesagt Andersdenkenden und Andersseienden geschehen ist,  kann ich unmissverständlich erkennen, wohin ungesteuerte Wut einer breiten Masse führen kann, wenn die eigentlichen Ursachen nicht angegangen werden. Die brennendste Frage ist für mich, ob und wie wir es schaffen können, eine derartige Entwicklung aufzuhalten, damit sich die Geschichte eben nicht wiederholt. Wir müssen wirklich begreifen, dass wir alle jetzt mit Dringlichkeitsstufe aufgerufen sind Lösungsideen zu entwickeln und umzusetzen, um diese Entwicklung zu stoppen. Ich hoffe so sehr, dass es viele Menschen gibt, die dabei sind und aktiv werden oder es auch schon längst sind und bestimmt auch schon vielleicht viel intensiver und wirksamer als ich. Nur das gibt mir Hoffnung und gibt mir Mut hier weiter zu schreiben.

Ich trage noch gar nicht sehr lange ein wunderschönes Bild in mir. Dass wir wirklich eine Weltgemeinschaft werden, denn diese Möglichkeiten sind uns mit der zur Verfügung stehenden Technik gegeben. Dass wir begreifen, – überall, dass wir uns dieses ständige Gegeneinander, die Konkurrenz und Ausbeutung gar nicht mehr leisten können. Hier nicht bei uns und nirgendwo auf der Welt. Was wir zum Leben als Menschen ausnahmslos brauchen, wie Trinkwasser und Luft, alle Ressourcen, sind egal wo auf diesem Planeten gefährdet. Ein wirkliches Miteinander weltweit ist jetzt die einzige Möglichkeit. Und meine Idee ist, dass wir es schaffen können, wir, die zur Zeit auf diesem Planeten existierende Menschheit, die sogenannte Speerspitze der Evolution. Wir könnten es, aber wirklich nur im Miteinander. Wenn ich aufhöre daran zu glauben werde ich hoffnungslos, also höre ich nicht auf.